In alter Zeit der Stein der Elen
In der Urzeit, als die Dinge noch keinen Namen hatten, wanderte Elen durch das Land der Träume. Sie erhob sich vom Ort der ewigen Ruhe, und in ihrem Herzen erwachte der Wunsch, das Traumland zu verlassen. Weit zog sie umher, und in ihrem Erwachen sang sie die Bilder ihres Traums in die Welt. Jedes Gewand, das sie umkreiste, nahm nun feste Gestalt an, und die Würze der Erde drang in ihren Atem.
Auf ihrer Wanderung formte Elen Wege in das junge Antlitz der Erde, Sarn Elen, die alte Straße, die, verborgen unter Wald und Ackerfurche, noch immer zu sehen ist, wenn man des Sehens kundig ist. Sie wanderte ohne Unterlaß vom Abend bis zum Morgen und erst als die Sonne aufging, hielt Elen inne. Mit dem ersten Sonnenstrahl sah sie ihre Spuren in einem neuen Land wie Schritte im ersten Neuschnee des Winters.
Elen hatte das Traumland verlassen und zog nun staunend und schauend weiter in die neue Welt. Sie folgte ihrem Auge, alles in ihrer Seele bergend, was ihr begegnete, bis sie, als sie den letzten Winkel durchstreift hatte, im Herzen dieser Welt ihren Traum erkannte. An diesem Ort endete ihr Weg und hier stellte sie einen großen Stein auf, den Cairn Elen. In ihn ritzte sie den Pfad ein, den sie gekommen war, und die Namen aller Wesen, die ihr begegnet waren.
Als sie erkannte, daß nichts ungenannt geblieben war, wandte sie sich ab und kehrte mit der untergehenden Sonne zurück in das Land der Träume. Es heißt, aus dem Cairn Elen wurden in der Folge all jene Steine gehauen, die an den Kreuzungen der Wege die Richtung weisen, und in jedem dieser Steine sei zu erkennen, welcher Weg ins Herz der Welt oder zurück ins Land der Träume führt.
Überall dort, wo Elen auf ihrer Fahrt inne hielt, sei ein solcher Stein zu finden, und jeder kleine Splitter aus dem Cairn Elen führe den Wanderer am Morgen ins Herz der Welt und am Abend zurück in das Land der Träume. Und manchmal in den kurzen Stunden zwischen Tag und Nacht sei Elen selbst auf dem Sarn Elen zu sehen und manchem Wanderer habe sie schon den Weg gewiesen.
Auch nachdem Elen ihre Wanderung in der Welt beendet hatte und ins Traumland zurückgekehrt war, begegneten ihr dennoch viele Wanderer auf dem Sarn Elen, der Alten Straße. Viele sahen sie in den Abendstunden bei den Steinen am Wegesrand stehen, und manch einer versicherte, sie habe ihm mit Rat und Tat den Weg gewiesen. Mitunter, so heißt es, sei sie sogar an mehreren Orten zur selben Zeit erschienen.
Es waren stets dieselben Orte und dieselben Steine, und man gewöhnte sich daran, an diesen Steinen die Hand zum Gruße zu heben, auch wenn Elen nicht selbst zu sehen war. Eines Tages machte sich eine junge Frau zu einem solchen Stein, zum Cairn Elen auf, um einen Rat zu erbitten. Sie erreichte ihn bei Einbruch der Nacht, jedoch schien er verlassen. Müde lehnte sie sich an den Fels, und da sie lange gewandert war, fielen ihr die Augen zu.
Da sah sie Elen auf der Alten Straße gehen, doch wanderte sie achtlos an ihr vorüber. Sie antwortete auf keinen Zuruf, und als die junge Frau ihr folgen wollte, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich: »Folge nicht meiner Erinnerung, sondern finde deinen eigenen Weg!«Darüber erschrak die junge Frau so sehr, daß sie erwachte. Am Cairn stehend war sie eingeschlafen. Nun war es dunkel und kalt, doch der Weg vor ihr schimmerte hell, als käme Licht aus der Erde.
Von da an folgte sie diesem Leuchten, und es führte sie zu all jenen Orten und Menschen, wo sie Rat fand und selbst Ratschlag erteilen konnte.Niemand kannte ihren Namen und namenlos wandert sie noch immer auf dem Sarn Elen und eigenen Wegen. Doch ihr Rat ist es wert, gehört zu werden, sollte man selbst die Orientierung auf dem eigenen Wege suchen.
Lange, lange Zeit nachdem Elen zurückgekehrt war ins Land der Täume, erwachte sie durch einen stillen Ruf. Sie erhob sich und sah hinaus in die Welt, welche sie kaum wiedererkannte. Der Sarn Elen, der Weg, den sie gezogen war, war kaum noch zu sehen und nur wenige Menschen wandelten auf ihm. Viele neue Wege und Straßen kreuzten ihn nun, und sie sah die Menschen eilig darauf umherhasten, als würden sie gejagt.
Es war laut geworden in der Welt, Stille war selten und nur noch an wenigen Inseln der Ruhe zu finden. Auch die Klarheit der Luft war verschwunden und der Himmel lastete wie eine graue Decke auf weiten Teilen der Welt. Ihr Stein, der Cairn Elen, war verschwunden, und sie erkannte in vielen, nicht mehr beachteten Steinen am Wegesrand, daß sie einstmals Teil ihres Cairns gewesen waren.Dort fand sie auch den Ursprung des stillen Rufs: Sie sah einen Stein in der Hand eines Menschen, der ihn zu lesen versuchte.
Dieses Bild berührte sie, und sie erkannte, daß es Zeit war, ein zweites Mal in der Welt zu wandeln. So begann sie in unerkannter Gestalt erneut auf den alten Pfaden zu ziehen, und mit jedem Schritt war der Sarn Elen, ihr alter Weg wieder deutlicher zu sehen. Er stieg empor unter Wald und Ackerfurche und immer mehr Menschen begannen, ihn von Neuem zu suchen. Wo immer Elen einen der Steine aus ihrem Cairn fand, begann sie, ihr altes Lied zu singen, und so geschah es, daß die Menschen plötzlich die verborgene Welt der Steine wiederzuentdecken vermochten.
Es heißt, Elen wandle noch immer in unerkannter Gestalt in der Welt, die alten Pfade zu beleben und die Steine zu erwecken, und ihre Begegnung erwecke den staunenden Blick des Kindes in jedem Mensch. Und in stillen Augenblicken könne man den Widerhall ihrer Lieder im Winde hören.
Weit wanderte Elen, bis sie eines Tages den großen Cromlech erreichte, jenen uralten Steinkreis, in welchem sie in Urzeiten schon zu verweilen pflegte. An den flechtenbewachsenen Menhiren schritt sie vorüber, und leicht strichen ihre Fingerspitzen über das rauhe Gestein. Jeder Stein, den sie dabei berührte, schien sogleich zu erwachen, als ströme plötzlich Kraft und Lebendigkeit durch ihn. Nachdem sie den Kreis einmal umschritten hatte, begann Elen, das alte Lied anzustimmen von den frühen Tagen der Erde, das Lied der Urzeit, in der die Steine noch reden konnten und Pflanzen, Tiere und die Menschen selbst ihren Erzählungen lauschten den Geschichten der steinernen Wächter und Hüter, die alles sahen und alles bewahrten durch den langen Fluß der Zeit.
Eine verborgene Welt schien der Gesang wachzurufen, er entrückte den Ort in eine andere Zeit.Doch plötzlich brach sie ab. Traurigkeit umfaßte ihr Herz und eine Stimme sprach in ihrem Sinn: »Singe nicht dieses Lied, Elen, und erinnere uns nicht an die goldenen Tage. Die Erde ist alt, und niemand lauscht heute auf unsere Stimme. Tot nennt man uns, taubes Gestein, und allmählich sterben wir unter den Blicken, die nicht seh¹n. Rühre nicht an, was fast schon vergessen war laß uns in Frieden ruhn!«
Als die Stimme geendet hatte, wandte sich Elen gen Westen, dem größten der Steine zu und sprach: »Ich kenne dich, Erleon, und du kennst mich. Einer der ersten warst Du und noch immer bist Du. In Vergessenheit seid ihr geraten und vergessen war auch ich. Doch wiedergekehrt bin ich und Botschaft bringe ich: Die alten Lieder werden wieder gesungen, und die Menschen fragen nach eurem Sinn. Gebt ihnen Antwort, wenn sie euch fragen, und verbergt nicht länger Wissen und Kraft.
Schon bald werden sie das Leben in euch erkennen, und die goldenen Tage sind nicht mehr fern!«Da verschwand der Griff der Traurigkeit von ihrem Herzen, und von neuem hob sie an zum Gesang. Weithin erschallte dieser über das Land, und manch einem, der ihn von Ferne vernahm, dem Rauschen des Windes gleich, war es an diesem Tag, als sähe er die Welt zum ersten Mal.
Es war im späten Herbst, zu jener Zeit, wenn das Licht der Sonne noch hell, die Hitze des Sommers jedoch im Schwinden begriffen ist, als er Elen begegnete. Der Wanderer kam den Sarn Elen heraufgeschritten, gerade dort, wo sich der Weg durch eine schmale Schlucht in die Berge zwängt. Von hohen Wänden gesäumt liegt daselbst ein riesiger Findling just in der Mitte der Schlucht. Niemand weiß, woher er stammt und auf welche Weise er einst in die Schlucht gelangte.
Auf diesem Stein saß Elen, ruhig den Weg und den Wanderer betrachtend, als ob sie ihn erwartet hätte. Dieser blickte nicht auf, versunken in Gedanken schritt er dahin und erst als er wenige Schritte vor ihr stand, bemerkte er sie. »Ich grüße dich! « sprach Elen ihn an. » Wohin führt dich dein Weg? «Doch er antwortete nicht gleich, erstaunt war sein Blick, bevor die Entgegnung kam: »Hinauf in die Berge! Doch gegrüßt seist Du, Elen, nicht erwartet habe ich, dich auf diesem Weg zu seh¹n!«
»Auch dies ist mein Weg, doch lange Zeit verweilte ich an anderem Ort. Im Frühling kehrte ich wieder, den Sommer zog ich umher, nunmehr muß ich von neuem fort! Doch woher kennst du mich, wer gab dir das Gesicht? Die meisten Menschen erkennen mich nicht!« »Seit Monaten raunen die Steine von der Rückkehr der Elen. Das wußt¹ ich wohl, doch nicht die Hoffnung hatte ich, dich selbst auf fernem Wege hier zu sehn.
Jedoch wer sonst als du steht bei den Steinen, wenn der Tag zuende geht. Doch sage mir nun, was dich hierher zu dieser Stunde hat geführt.« »Den Winter schlief ich, den Sommer sang ich, ich ließ mein Lied in diesem Land zurück. In den Steinen ruht es, in den Pflanzen wächst es, in den Tieren lebt es, doch es erwacht in euch. Laßt es erklingen, Menschen! Leiht mir eure Stimme! Damit es niemals mehr vergessen wird.
Ich bin das Land, das zu euch spricht, denn eurer Hilfe mangelt mir. Wenn ihr mich hört in den Steinen, wenn ihr mich fühlt im Pflanzenleib, wenn ihr mich seht im Lauf der Tiere, dann erst erkennt ihr diese Welt. «Mit diesen Worten verschwand Elen. Ihr Platz auf dem Stein war leer. Lange noch stand der Wanderer vor den Steinen. Erst als die Dämmerung sich im Dunkel der Nacht verlor, ging er weiter und begann zu singen.
von Michael Gienger